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Dienstag, 27. März 2012

Opferte die Piratenpartei Basisdemokratie auf dem Altar der Nominierung?


Nach überstandenem Kater von einer Wahlparty, und zwei Tagen Abstand von einem Nominierungsparteitag, der im Prinzip einen sehr zufrieden stellenden Ausgang genommen hat, lässt sich bei mir das Gefühl eines politischen Katers einfach nicht verdrängen. Zu viele Eindrücke und Fragen haben die letzten Tage aufgeworfen, die diskutiert und gelöst werden sollten.


Nach der Freude über den fantastischen Wahlsieg im Saarland mit deutlich über 7% der Stimmen, fiel mir wieder ein, dass die Piratenpartei Schweden von über 7% bei den Europawahlen auf 0,7% bei den Nationalwahlen von 2010 zusammen gebrochen war. Der Wähler gibt, der Wähler nimmt.


GEFAHREN FÜR DIE GLAUBWÜRDIGKEIT

Wir wissen sehr gut, dass Priester, die ihre Religion wechseln, oft die entschlossenen Feinde ihrer früheren Religion werden. Zu sehr fühlen sie sich verraten und belogen, wenn sie erkennen, oder glauben zu erkennen, was die Wahrheit wirklich ist. Rosenkriege sind umso heftiger, je stärker und hingebungsvoller sich das Paar vorher geliebt hat. Und Wähler werden umso schneller und radikaler ihre Meinung ändern, je stärker sie glauben, „betrogen“ worden zu sein. Das vielleicht beste Beispiel für einen solchen Vertrauensentzug stellt die regelrechte Vernichtung der FDP dar, oder auch der Niedergang der SPD nach Einführung der Agenda 2000.

Gefahr für die Glaubwürdigkeit entsteht aus dem Erkennen, oder scheinbaren Erkennen, von Widersprüchen, die aus dem Unterschied zwischen Versprechungen und Taten resultieren. Also sollten wir uns selbst immer wieder hinterfragen, ob wir denn wirklich halten, was wir versprechen? Eines unserer größten und wichtigsten Versprechungen ist das von

BASISDEMOKRATIE UND BETEILIGUNG.

Bereits in meinem Blog über Mandatsbewerber (http://jomenschenfreund.blogspot.de/2012/03/piraten-mandatsbewerber-sind-sie-anders.html ) hatte ich die Frage aufgeworfen, ob es sinnvoll ist, „Stallgeruch“ als Auswahlkriterium zuzulassen. Und in meinem Blogbeitrag (http://jomenschenfreund.blogspot.de/2012/03/das-problem-mit-dem-engagement.html ) warnte ich davor, einen Spalt zwischen Neu-Mitglieder und Alt-Mitglieder zu treiben. Am ersten Tag des Nominierungsparteitages wies ich dann darauf hin, dass die Behauptung, dass die direkte Wahl von Mandatsträgern basis-demokratischer wäre als diejenige durch Delegationen, noch durch Maßnahmen verstärkt werden müsste, um zu überzeugen (http://jomenschenfreund.blogspot.de/2012/03/basisdemokratie-bei-den-piraten-aber.html ).

Nach dem Ende des Parteitages stehen wir vor eine respektablen Liste, die vielleicht in einem anderen Verfahren wesentlich genauso ausgefallen wäre. Und bis auf regionale Unzufriedenheiten über zu geringe Repräsentation in der Liste, hörte man kaum Klagen. Dem aufmerksamen Beobachter dürfte aber nicht entgangen sein, dass die Abstimmungen unter einem hohen Erfolgsdruck standen. Das Motto war ausgegeben worden: Die Liste musste fertig werden, koste es was es wolle.

Aber wie ist dieses Ergebnis zustande gekommen? War das wirklich basisdemokratisch und mit maximaler Beteiligung der Mitglieder?

Fehlender Minderheitenschutz

Zunächst fiel auf, dass nur ganz wenige Bewerber wirklich „gegrillt“ wurden. Regelmäßig wurde die Forderung von Mitgliedern, Fragen stellen zu dürfen, mit einer einfachen Mehrheit abgeschmettert. Eine Mehrheit, die schon dadurch motiviert worden war, dass man immer wieder betonte, dass unbedingt die Liste fertig werden müsse, und man daran denken solle.

Hier wurden Minderheiten gnadenlos beiseite gedrängt. Ein Quorum von 5% oder vielleicht sogar 10% wäre vielleicht noch hinnehmbar. Eigentlich aber sollte im Falle einer Personalwahl überhaupt kein Quorum bestehen. Zu sensibel, zu wichtig ist eine solche Wahl.

Natürliche gibt es tausend Gründe dagegen. „Er hätte sich früher melden können“, hätte in die Mailingliste oder über das vorherige Grillen eingreifen können, usw. Aber möglicherweise wollte oder konnte der Fragesteller dies nicht, weil die einzigen, die entschieden, waren die Mitglieder, die hier und jetzt in der Versammlung saßen. Alles was vorher gelaufen war, war Schall und Rauch, unwichtig. Und diese Entscheider hatten nicht alle Grillings und Wiki-Einträge oder Mailinglisten verfolgt. Die entschieden jetzt und hier auf Grund ihres persönlichen Eindrucks.

An den Pranger stellen

Die Kandidaten, gegen die dagegen, wie der Anschein entstehen konnte, eine abgesprochene Anzahl von Mitgliedern eine Befragung erzwang, wurde durch diese negative Selektion regelrecht an den Pranger gestellt. Crissie brachte es in gespielter Naivität in einer Frage auf den Punkt: „Was hast du verbrochen, dass du jetzt hier gegrillt wirst“.  …

Ist das gute demokratische Praxis, oder politische Hexenjagd?

Basisdemokratische Entscheidung oder Entscheidung einer Gruppe?

Wir erinnern uns, dass nur knapp 25% der wahlberechtigten Parteimitglieder anwesend waren. Zusätzlich ergab sich für unbedarfte Zuschauer der Eindruck, dass sich Gruppen abgesprochen hatten. Waren bestimmte Kandidaten „zum Abschuss frei gegeben“ worden? Durch die gezielte Handlung dieser Gruppen, die eine Befragung erzwangen, ergab sich folgende Situation, die auf Grund des Prozedere zu erwarten gewesen war:

Die Mitglieder, die sich nicht sicher waren, wählten erst einmal die Befragten sicherheitshalber nicht. Stattdessen passierte durch die Art des gewählten Wahlverfahrens, die Akzeptanzwahl, genau das gleiche wie in allen anderen Parteien: Das bekannteste Gesicht, das sich am wenigsten hat „zuschulde“ kommen lassen, wurde gewählt. Wobei es natürlich auch Ausnahmen gab, wie die des Spitzenkandidaten, der auf Anhieb die 50% Hürde überwand, noch bevor die Mitglieder eindringlich auf die Wichtigkeit hingewiesen worden waren, unbedingt mindestens über 40 Kreuze zu machen, damit „die Liste voll wird“.

Die Sache mit der Dauer der Parteizugehörigkeit

Es schien fast so, als ob Mitglieder der Meinung wären, dass ein Listenmandat die Belohnung für Parteiarbeit wäre. So etwas klingt genau wie das, was die Piraten an den etablierten Parteien so bemängeln, deshalb taten die Organisatoren gut daran, diesen Anschein zu bekämpfen.

So klangen die Fragen nach den „Tätigkeiten“ für die Partei und nach der Dauer der Parteizugehörigkeit tatsächlich so platt und dumm wie die Frage nach dem längsten Schw… wie ja andere Piraten bereits festgestellt hatten. Was hätten wohl die einstigen Weggefährten der 1968er Generation über Joschka Fischer gesagt, wenn sie damals gewusst hätten, wie vehement er sich heute, wenn auch indirekt, für präventiven Krieg und Gewalt ausspricht? Oder was hätten die einstigen Weggefährten von Otto Schily wohl gesagt, wenn sie damals gewusst hätten, wie er sich politisch entwickelte? Oder was würden wohl seine SPD-Genossen 1956 gesagt, wenn sie damals gewusst hätten, dass Mahler einmal in die NPD eintreten würde? Länge der Parteizugehörigkeit eine Auszeichnung oder Garantie für Qualität?

ZUFRIEDENHEIT ÜBERWIEGT, ABER ÄNDERUNGEN NOTWENDIG

Die Parteiliste stellt eine gute Mischung aus Idealisten, zukünftigen Karrierepolitiker und aufrechten Parteisoldaten dar. Es bestätigt sogar den Anspruch „anders“ und „basisdemokratisch“ zu sein. Insofern ist alles im Lot? Für den Moment vielleicht ja. Aber wir sollten uns schleunigst Verfahren und Methoden ausdenken, die a) weniger anfällig für mögliche zukünftige Manipulationsversuche durch Gruppen oder Strömungen in der Partei sind und b) eine stärkere Repräsentanz wirklich aller Parteimitglieder darstellen.

Weiterhin sollte man überlegen, ob bei einer Akzeptanzwahl wirklich so viele Kandidaten zugelassen werden, die dann offensichtlich „nicht akzeptabel“ sind. Das erzeugt für diese einen Makel, ein Brandmahl. Und vielleicht grundlos, und nur weil die Masse „sicher gehen“ wollte. Wenn man ein Akzeptanzverfahren wählt, sollte man so viele Kandidaten zulassen, wie man auf der Liste haben will, und eine Mindestzahl an abzugebenden Stimmen vorschreiben, damit alle Kandidaten gewählt, aber durch die unterschiedliche Zahl der abgegebenen Stimmen eine Reihenfolge auf der Liste hergestellt werden kann.

Wie man die Vorauswahl trifft, nun darüber lässt sich die nächsten Monate sicher streiten und eine Lösung finden. Klar ist, dass ALLE Parteimitglieder an diesem Vorauswahlprozess beteiligt werden müssen.

WIRD ERFOLG IN DEUTSCHLAND NACHHALTIGER?

Der Vergleich zwischen 7% Europawahl und 0,7% Nationalwahl ist etwas unfair, weil die Wähler der schwedischen Piratenpartei von vornherein zum Ausdruck gebracht hatten, dass sie die Piraten als internationale Kraft und im Europaparlament eher als im nationalen Parlament sehen. Es ist in Schweden wohl weniger eine Frage des Verlustes an Glaubwürdigkeit. Ich denke trotzdem, dass uns ein solches Schicksal ereilen wird, wenn wir nicht von vornherein auf einen Erhalt von Glaubwürdigkeit achten. Denn in Deutschland sehen uns die Menschen als nationale Kraft.

Glaubwürdig wird man nicht, indem man Nerdbegriffe benutzt und unflätige Ausdrücke, um andere Meinungen zu verunglimpfen. Auch nicht indem man sich mit hippen Nicks schmückt. Glaubwürdigkeit gewinnt man, indem man Kritik zulässt, aufgreift, und als Hinweis versteht, wie man sich verbessern kann. Glaubwürdigkeit gewinnt man, indem man gerade jenen Mitgliedern zuhört, die neu in die Partei kommen. Glaubwürdigkeit gewinnt man, indem man das tut, was man selbst von anderen fordert. Und auf Dauer kann man nur glaubwürdig sein, wenn man keine zu hohen Erwartungen weckt.

Glaubwürdigkeit bedeutet einen ständigen Kampf zu führen gegen die eigene Trägheit, die eigene Eitelkeit, die Beeinflussung durch Ja-Sager und Karrieristen. Wenn die Piratenpartei das schafft, und sogar noch in der Lage ist, ein wirklich alternatives Parteiprogramm auf die Beine zu stellen, wird sie die Parteienlandschaft dauerhaft verändern. Wenn ihr das nicht gelingt, wird sie möglicherweise in einigen Jahren so wie die Piratpartiet, in Wikipedia nicht einmal mehr erwähnt werden, wenn über eine Wahl berichtet wird. (http://en.wikipedia.org/wiki/Swedish_general_election,_2010 )



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